Hamburg, Dezember 2009
Herr Milberg, der neueste  Wallander-Roman der Der Feind im Schatten ist die letzte Begegnung mit dem eigenwilligen Kommissar aus Schweden. Erinnern  Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Kurt Wallander?
Ja,  das ist schon ziemlich lange her. Es war gegen Anfang der 90er Jahre, dass ich  zum ersten Mal einen Krimi mit Kurt Wallander in der Hand hielt. Ich habe ihn  im Urlaub am Swimmingpool meiner Frau stibitzt, fing an zu lesen und konnte gar  nicht mehr aufhören. Mir blieb die Klappe offen stehen, wie fleißig, wie  spannend und wie anschaulich dieser schwedische Autor schreiben kann. Hundert  falsche Fährten legt er aus und zwei führen dann schließlich weiter und  entpuppen sich als richtig. Er schafft es, diesen Bienenfleiß zu  schildern, den die Polizei an den Tag legen muss. Er schreibt so nah am  Polizeialltag und doch so spannend. Und dann natürlich diese Figur: der  übergewichtige, etwas kurzatmige, mürrische, einsame Kurt Wallander, der nichts  mit dem herkömmlichen Helden gemein hat, aber der wir sofort alle sind.
Wie meinen Sie das?
    All  das, was Kurt Wallander beschreibt, kennt man, er ist keine stilisierte Figur.  Mankell stellt wie alle großen Künstler dieses Wunder des Sich-Wiedererkennens  her: Oh, das bin ja ich! So wache ich auf, so gehe ich ins Bett, so stehe ich  am Meer, so schaue ich aufs Wasser, so misslingen mir Dialoge und Gespräche, so  schütte ich mir einen Whisky ein, so höre ich Musik, so liebe ich ohne viele  Worte, so verstehe ich mich mit Kollegen oder werde ich ungeduldig und bin  jähzornig. Und so hat Mankell es geschafft, dass Kurt Kult geworden ist, obwohl  und gerade weil Kurt Wallander uns so nah ist.
    
Aber das  Wiedererkennen hat doch seine Grenzen. Schließlich sind nur die Wenigsten von  uns Kommissare, was den Reiz des Krimis ausmacht … 
 
    Ja,  der Kriminalroman mit seinem Auftrag an die ermittelnden Behörden gibt uns, den  Lesern, einen Vorwand durch Welten zu wandern, die ein normaler Bürger gar  nicht erlebt. Die Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Es gibt viele  Parallelwelten. Das Wort kann man mögen oder nicht, aber es beschreibt in einem  Begriff, dass wir die Übersicht nicht mehr haben, auch in unserem eigenen Leben  nicht. Ich weiß zum Beispiel nicht viel von dem, was um mich herum in München  stattfindet. Ich habe da meine Familie und ich habe da meine Gänge, den Weg zum  Flughafen und so weiter. Aber ich bin nicht viel in den Restaurants, im  Nachtleben, in Bars, in Puffs, in den christlichen Gemeinden, in der Kirche,  nicht im Krankenhaus, nicht in der Kaserne, nicht beim Militär, nicht in den  Badeanstalten, nicht in den Klöstern – so könnte ich ewig fortfahren, Welten  aufzuzählen, in denen ich mich nicht auskenne.
    
    
    
      
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        | Axel Milberg, Copyright Marion von der Mehden | 
      
    
    
    
    
  Und als Ermittelnder musst Du  ganz tief bohren, in diese Welten vordringen, jeden Stein umdrehen. Und das  macht Wallander. Und dabei ist er kurzatmig, hat Zucker und trinkt gerne  Whisky, vernachlässigt seine einzige Tochter, ist grimmig mit seinen Kollegen.  Er hat also all die Defizite, die wir fürchten, auch zu haben, wenn wir nicht  aufpassen, gegen die wir ankämpfen, weil uns die Kraft fehlt, das Temperament,  das Herz, die Empathie, die Zeit. 
    
So viel zum  Kommissar Wallander. Nun zum Sprecher Axel Milberg – wie würden Sie Ihre Art  des Lesens beschreiben? 
 
    Wenn  ich es in einem Satz zusammenfassen soll, würde ich sagen, dass ich ein  intuitiver Sprecher bin. Aber die Intuition ersetzt nicht die Vorbereitung,  sondern kommt hinzu. Für mich ist das Lesen ein physisches Erlebnis. Das heißt,  ich sehe, was ich lese. Ich sehe einen Film. Diesen Film beschreibe ich im  Grunde genommen den Hörern. Nehmen wir zum Beispiel den Anfang von Mankells  Roman 
Der Chinese. Der ist aufgebaut  wie ein Film. Sie kommen aus der Totale, zoomen aus der Totale über Norwegen  über die Grenze nach Schweden, einen Fluss überquerend, sozusagen wie eine  Helikopterfahrt über die verschneite Landschaft folgen Sie einem Wolf über  verschiedene Orte bis dorthin, wo der Wolf stehenbleibt und anfängt, den  abgetrennten Fuß in einem Schuh, den Unterschenkel, das Bein eines Menschen  anzunagen. Da zoomt dann die Kamera langsam näher, aus der Totale in die  Halbtotale, in die Nah- bis in die Großaufnahme. Und dann ist Schnitt. Und dann  sind wir bei dem Mann, der nur noch dieses eine Dorf besuchen will, um Fotos zu  machen von den verschneiten Häusern, aus deren Schornsteinen Rauch aufsteigt.  Und so haben Sie im Grunde genommen einen filmischen Aufbau. 
  
Was bedeutet für Sie  beim Lesen im Studio die Regie? 
 
    Meine  Regisseurin Caroline Neven Du Mont, mit der ich bei meinen Aufnahmen in München  meistens zusammenarbeite, ist für mich meine stellvertretende Zuhörerin. Wenn  sie sich langweilt, wird sich auch der Zuhörer langweilen. Außerdem neige ich  dazu, zu schnell zu lesen – und dann sagt sie mir »langsamer«. Sie hat an der  Lesung eine ungeheure Leistung, selbst wenn sie wenig sagt. Ihre Leistung ist  es, dass sie immer sehr wach zuhört, um zu kontrollieren, wie es später dem  Zuhörer gehen wird. 
  
Was macht für Sie  den besonderen Reiz der Studioarbeit aus?
 
    Das  Herrliche bei Studioaufnahmen ist, dass das Optische wegfällt. Ich könnte also  im Pyjama dastehen, mit Duschhaube, und einem Popel in der Nase – das wäre  völlig egal. Es gibt zwischen dem Text und meiner Stimme nur meine Fantasie und  die Art zu denken. Ich erschaffe sozusagen eine Welt durch die Stimme. Ich  mache Unsichtbares sichtbar. Das sind für mich Sternstunden des Berufs. Also  ich mache das nicht, um davon zu leben. Beim Schaffen einer Welt, da stört so  wenig. Da muss es keine Beleuchter geben, keine Maske und Wohnwagen und  Catering. Es ist die Konzentration auf etwas ganz Wesentliches, das den  Schauspieler ja ausmacht – in der Flut der Bilder, in der wir stehen, von  Youtube und dem Fernsehen und dem Kino und Facebook und so weiter – das Auge  schließt sich, ruht aus, die Ohren öffnen sich und Du geht im Kopf spazieren,  angeregt durch das, was Du hörst. Als ich Henning Mankell einmal erzählte, dass  in Berlin im Planetarium vier-, fünf-, sechshundert Menschen in Liegestühlen  unter dem gestirnten Himmel liegen und Hörspielen lauschen, war er ganz  erstaunt und freute sich. 
  
Sie kennen Henning  Mankell persönlich. Wie würden Sie den Menschen Mankell beschreiben? 
 
    Er ist  ein Mensch, bei dem man verblüfft darüber sein muss, wie viele unterschiedliche  Leben er zu haben scheint. Er ist hier und da und dort. Er unterstützt  Christoph Schlingensief und ist dann wieder in Afrika und hat sein Theater und  inszeniert dort und hat einen Verlag für Dichtung aus Afrika und der Dritten  Welt gegründet und eine Produktionsfirma, die er aber inzwischen wieder  verkauft hat. Er kümmert sich um die Realisierung seiner Bücher, auf die er  einen letzten Blick hat, genau wie auf die Filme. Und er schreibt – und wir  wissen ja, das Schreiben ist eine einsame Tätigkeit, bei der man keine Störungen  vertragen kann. Er hat vier Kinder. Und er liebt es, Geschichten zu hören,  erzählt zu bekommen. Wobei er ungeduldig ist, das spürt man. Er hat keine Zeit  für Smalltalk, für Gelaber, für Meinungen und so weiter. Aber er liebt es,  Geschichten zu erzählen und Geschichten erzählt zu bekommen, egal von wem,  nicht intellektuelles Gewäsch, sondern Geschichten, die das Leben beschreiben  in den verschiedensten Kontinenten und Lebensformen. 
  
Was zeichnet einen  »typischen« Mankell aus? 
 
    Ich  denke, seine Einstellung, dass jedem Verbrechen ein anderes Verbrechen  vorausgegangen ist. Das ist, so scheint mir, eine skandinavische Tradition.  Dieses Gleichgewicht des Verbrechens ist ein großes Thema auch in den privaten  und politischen Ansichten Mankells. Jedes Verbrechen hat einen Grund in einer  sozialen Ungerechtigkeit. Ich bin da anderer Meinung als er, ich persönlich.  Ich glaube, es gibt auch das Böse im Menschen – leider, wo wir uns mit der  Begründung schwer tun würden. Zwei können das Gleiche erleben und der eine wird  ein Heiliger und der andere wird Adolf Hitler. Man kann es eben nicht immer  erklären, es wäre schön, wenn es so wäre, aber das sieht Mankell eben so. Und  in großen Teilen hat er damit sicherlich Recht. Ein großes Thema für ihn sind  die Verbrechen der so genannten Ersten Welt an der so genannten Dritten Welt,  deren Folgen oft mit Verspätung eintreten. Im 
Chinesen ereilt die Nachfahren eines Mannes, der sich 140 Jahre  zuvor als sadistischer Aufseher beim Eisenbahnbau in Amerika an den dortigen  chinesischen Zwangsarbeitern vergriffen hat, ein grausames Ende. 140 Jahre nach  der ursprünglichen Tat. Also das ist Mankell in Reinkultur sozusagen. Der reine  Mankell in seiner politischen Überzeugung. 
  
Hat sich der Zugang  zu Mankells Werken durch die persönliche Bekanntschaft mit ihm verändert? 
 
    Nein.  Nein. Nein, das möchte ich auch nicht. Ich möchte, dass diese Texte wie aus dem  Himmel kommen. Das geht mir übrigens mit allen Künstlern so, Musikern oder  Schauspielern oder Schriftstellern. Eigentlich möchte ich sie, gerade wenn ich  sie sehr verehre, gar nicht unbedingt persönlich kennenlernen – also Mankell  ist da für mich eine Ausnahme. Ich will gar nicht so viel verstehen, weil ich  lieber meinen eigenen Zugang dazu baue. Oder das Staunende nicht verlieren  möchte.
    
    
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